Die Stimmung kippt

Die Hilfsbereitschaft über das osthessische Internetangebot www.taten-bank.de und das angeschlossene Portal des Hessischen Rundfunks „People-like-me“ ging zurück. Kamen noch im September 2016 quasi im Minutentakt Angebote für „praktische Hilfe“ oder „Sachspenden“, sind inzwischen täglich nur noch wenige E-Mail-Eingänge zu verzeichnen.
Je nach Quelle kommen Menschen beim Thema „Flucht und Zuflucht“ zu persönlichen Meinungen. Bestenfalls Soziologen können da Szenarien, aber nicht einmal sie das Ende der Fahnenstange beschreiben. Dennoch werden Gerüchte in den sogenannten sozialen Medien repetiert. Die wenigsten Facebook-Autoren sind um saubere Quellen bemüht, geschweige denn hätten sie eigene Erfahrungen mit Flüchtlingen gemacht, deren Unterkünfte gesehen, mit Helfern und politisch Verantwortlichen gesprochen. Statt der angeblich staatsgelenkten „Lügenpresse“ werden die rechte „Junge Freiheit“ und der verschwörungstheoretische Koop-Verlag als zuverlässig angesehen. Auch die traditionelle Presse bietet schlecht recherchierten Sensationsmeldungen nach Monaten des Bemühens um Willkommenskultur wieder ein Forum.
AfD, NPD und Pegida wittern in der scheinbar kippenden Volkesstimmung Rückenwind. Völkische Truppen verbreiten wieder Hasstiraden gegen Geflüchtete. In der öffentlichen Wahrnehmung wurde schon beim ersten Aufkommen der neueren braunen Bewegung der Eindruck erzeugt, es deute sich ein „Volksaufstand“ an. Tatsächlich sind vergleichsweise Wenige auf die Straße gegangen, aus diffusen Ängsten und heterogenen persönlichen Unzufriedenheiten. Flachschippen, wie Lutz Bachmann und Björn Höcke, spiegeln schön wider, wie substanzlos das alles war und ist. Fluchtursachen werden von den braunen Rattenfängern ignoriert.
Die meisten Menschen machen sich auf den Weg nach Nordeuropa, weil sie in ihren Heimatländern mit Krieg, Gewalt und / oder Armut nicht länger leben konnten. Es gebietet sich Hilfestellung als reiches Land, welches durch jahrzehntelange falsche Politikansätze am Elend in der Welt mitverantwortlich ist. Falsches Finanzgebaren, einzig an deutschen Interessen ausgerichtete Entwicklungshilfe, hemmungslose Rüstungsexporte und Unterstützung von Diktaturen sind die Ursache. Reichtum hierzulande ging auch auf Kosten der Menschen, die nun verzweifelt an unserer Tür klopfen. Wer da klopft, sollen Islamisten sein: Junge Männer, die unsere blonden Frauen rauben wollen. Beschworen wird eine „abendländische Kultur“. Wahr ist, dass sich Werte entwickelt haben, die in unserer Gesellschaft als geordnet und wohlig empfunden werden. Die christlich patriarchale Gesellschaft war jedoch über Jahrhunderte für Leid verantwortlich: unterdrückte Frauen und Kinder, verfolgte Minderheiten (dies gipfelte in der Zeit von 1933 bis 1945). Christsein war im NS-Regime verpönt, weil ein Führer an Gottes Stelle treten sollte. In der jungen Bundesrepublik wurde sich vermeintlich christlicher Werte besonnen. Doch war die Republik schnell, auch auf Betreiben der Siegermächte mit „lenkbaren“ Nazis durchsetzt. Wo sollten auch Menschen mit „weißer Weste“ herkommen, die nicht tief gekränkt, traumatisiert waren oder wegen kommunistischer Einstellung nicht als geeignet erschienen? Es entstand eine scheinheilige Wertegesellschaft. Sie wurde erst durch die Jugendrevolte der 68er aufgebrochen. Deren inzwischen gealterte Protagonisten riefen die „multikulturelle Gesellschaft“ aus, die trotz völkischen Widerstands unweigerlich am entstehen ist.
Von AfD, Republikanern und NPD werden verstärkt Parolen skandiert, ohne tatsächlich Lösungskonzepte für die anstehenden gesellschaftlichen Aufgaben präsentieren zu können. Die Bundes-AfD zum Beispiel kann zwar populistische Strafanzeigen gegen die Bundeskanzlerin stellen, doch hat sie bis heute kein ordentliches politisches Programm erarbeitet. Die 2013 gegründete und seit ein paar Monaten auch noch um ihren intellektuellen Flügel ärmere angebliche Alternative kündigt auf ihrer Internetseite seit geraumer Zeit an: „Ein ausführliches Parteiprogramm wird im Lauf des Jahres unter Einbeziehung aller Mitglieder erarbeitet.“ Auch auf der Internetseite des AfD-Kreisverbands Fulda wird unter „Kommunales“ lediglich angekündigt, er werde sich verstärkt „mit den kommunalpolitischen Themen befassen“.
In Parlamenten, in denen sie eingezogen sind, erweisen sich AfD-Abgeordnete als faul und unsortiert. Sie fallen bestenfalls durch undemokratische Positionen auf, die sich im Widerspruch zueinander bewegen. Europa-Abgeordnete treffen Beschlüsse, die denen von Landtagsabgeordneten diametral widersprechen und umgekehrt. Es gibt keine einheitlichen AfD-Positionen. Selbst die NPD hat eine klarere politische Ausrichtung, auch wenn die meisten in Parlamenten gesetzten Themen bei beiden rechtspopulistischen Gruppierungen allzu ähnlich sind. Der gescheiterten Unternehmerin Frauke Petry ist seit ihrer Machtübernahme nicht gelungen, die Partei auf eine Linie zu bringen. Die heutige AfD ist ein Sammelsurium von Rechtspopulisten, Esoterikern und egozentrischen Individualisten. Nicht wenige schielen auf Parlamentssaläre und können nur Phrasen, nicht wirkliche Konzepte vorlegen. Insgesamt ist der Denkfehler, der vielen zugrunde liegenden Verschwörungstheorien, dass etwas zentral gesteuert wird. Die Medien haben in Jahrzehnten den Eindruck geschürt, Großkonzerne und mächtige Politiker würden das Geschick der Welt bestimmen. Tatsächlich herrscht in der menschlichen Welt schlicht Anarchie. Das Wenigste läuft von oben nach unten geordnet und folgt einem großen Plan einzelner Machtmenschen.
In einer sich immer weiter wandelnden und dadurch bedrohlich erscheinenden Welt haben Menschen Angst vor islamistischen Extremisten und dem wachsenden Einfluss von Wirtschaftskonzernen. Sie wollen selbst bestimmen. Sie wollen, wenn sie einen VW kaufen, nicht belogen werden und haben Angst die vermeintliche Sicherheit bei Nahrungsmitteln durch TTIP zu verlieren. Sie sind zutiefst verunsichert, haben Zweifel darüber, wem sie glauben können und sind aus Erfahrung skeptisch.
Dass viele ausgerechnet auf braune Bauernfänger reinfallen, liegt an den einfachen Welterklärungen, die sie liefern. Bildung ist da der Schlüssel und sich von der Selbstverständlichkeit zu lösen, dass wir nichts verändern können, weil andere da oben als Stellvertreter unser Schicksal bestimmen. Denn wir können mitwirken, eine Welt zu schaffen, wie sie uns gefällt.

Autor: Timo Schadt, Quelle: www.printzip.de